Kein Kampf: Intuitives Yoga nach Vanda Scaravelli

Von Alke von Kruszynski

Do less, feel more – weniger machen, mehr fühlen

Wie viele Menschen – und vor allem viele Frauen! – im Westen, bin ich ein „Richtigmacher”: Wenn ich etwas mache, möchte ich es gut machen. Vielleicht nicht am besten, aber so, dass ich mit dem Ergebnis zufrieden sein kann. Zu dieser Haltung neigt die Gesellschaft, in der wir leben. Und mit dieser Einstellung bin vor 18 Jahren zu meiner ersten Yogastunde gegangen.

Als sportlicher Mensch fielen mir viele Asanas leicht. Was ich nicht gleich „konnte“, habe ich so lange geübt, bis ich es so hinbekam, wie es die Sivananda-Yogalehrerin gezeigt hat. Das hat mich Kraft gekostet und entsprechend habe ich Kraft, Muskeln aufgebaut. Ich bin in den Hüften und anderen Gelenken beweglicher geworden – in Vorwärtsbeugen sank ich kontinuierlich tiefer. Ich habe an meinen Beinen gezogen, bis ich sie hinter den Kopf bekam. Habe mich in Rotationen gedrückt und in Hunde und Handstände geschoben. Am Ende sangen wir Om, dazu ein bisschen Pranayama davor oder danach – ein Ritual, das mir mehr oder weniger sinnvoll und hilfreich erschien. So habe ich dreimal die Woche Yoga „gemacht“, zusätzlich vertiefte ich meine Praxis auf diversen Retreats.

Aber: Nach sieben Jahren dieser fordernden Praxis waren meine Rückenschmerzen nicht wirklich verschwunden. Bei Rückbeugen blieb ich kurzatmig, oft schmerzte meine rückwärtige Oberschenkelmuskulatur. Ist eben so, dachte ich, wird irgendwann besser. Muss ich halt mehr üben. Balanceübungen habe ich gehasst, blieb dabei angestrengt und war nie geerdet. Es nicht besser zu „können“, hat mich – völlig unyogisch – total genervt.


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In der Verbindung liegt die Kraft

Bis ich in Goa zufällig in eine Unterrichtsstunde geriet, die alles veränderte.

Die englische Lehrerin bat uns, nicht mit Kraft zu arbeiten oder gar an unser Limit gehen, sondern im Gegenteil weniger zu machen und geduldig in unseren Körper zu spüren. Dieses Loslassen von festen Vorstellungen und vom Anhaften an die äußere Asana-Form, so erklärte sie, wäre ein Schlüssel zu einer freien, aus der Intelligenz des Körpers und der Wirbelsäule entstehenden Bewegung. 

Sie lud uns ein, nicht von außen nach innen zu arbeiten: So muss Asana XY aussehen, also nehme ich die Form so gut es geht ein. Stattdessen sollten wir die Form aus dem Inneren entstehen lassen, ihr Zeit und Geduld geben, sich zu entfalten und zu offenbaren. In genau der Weise, wie es unsere Körper hier und jetzt erlauben. Wir wurden angeleitet, jede Bewegung aus der Stille heraus achtsam wachsen zu lassen, ganz so, wie ein Baum aus der Erde wächst. Langsam, in seiner absolut einzigartigen Form. Um das zu erleben, sollten wir den Atem bewusst auf jene Anspannungen lenken, mit denen der Körper seine Grenzen zeigt. Wir wurden aufmerksam angeleitet, in Verbindungen hineinzuspüren.

Ehrlich gesagt habe ich durch meine vielen Muskelschichten hindurch erst einmal, nun ja – gar nichts gespürt. Nur, wenn mir die Lehrerin ihre Hände sanft auf relevante Körperteile legte – sie las in meinem Anspannungen wie in einem Buch – und mich aufforderte, dorthin zu atmen, Gewebe sanft zu öffnen, statt daran zu ziehen, merkte ich: Hier löst sich etwas, hier passiert etwas ganz Neues mit meinem Körper.

Das stille Wasser eines Sees spiegelt die Schönheit seiner Umgebung. Ist der Geist still, spiegelt sich darin die Schönheit des Selbst.

Vanda Scaravelli

Inuitives Yoga nach Vanda Scaravelli

Dass ich Intuitives Yoga nach den Prinzipien der italienischen Yoga-Avantgardistin Vanda Scaravelli erlebte, die ihre Methode über Jahre entwickelt und an gerade einmal gut 20 Schülerinnen und Schüler weitergegeben hatte – das wusste ich nicht. Eines aber fühlte ich sofort: Dies wird mein nächster Weg. Einer, der offenbar tiefer in die Geheimnisse der Asana-Yogapraxis schauen lässt.

Allerdings war es ein Weg, auf dem ich mit meinen etablierten Mustern nicht weiter kam. Mühevoll musste ich jahrelang gehegte Vorstellungen davon loslassen, was Yoga „ist”. Ich fing komplett von vorn an. Indem ich mich dem Intuitiven Yoga öffnete, wie es die Musikerin und Yoga-Pionierin Vanda gelehrt hatte, bekam das Yoga einen tieferen Sinn.

Vandas Weg ist der des vertrauensvollen Weniger. Das war zunächst allerdings ziemlich frustrierend, für mich als Achiever. Er konfrontierte mich – neben einigen anderen Eigenschaften und Verhaltensmustern – mit meinem Ehrgeiz. So fördert das intuitive Yoga aktiv Selbstreflektion schon in der Asana-Erkundung: Wie gehe ich mit meinem Körper um? Respektiere ich seine Grenzen? Kann ich geduldig seine langsame Öffnung abwarten und unterstützen, die doch immer hinter der Blitzschnelligkeit des Geistes zurückbleibt?

Denn rein von außen betrachtet, sieht das intuitive Üben nach wenig aus. Und nicht ein Yoga-Übender steht, sitzt oder liegt in derselben Position wie sein Mattennachbar. Sondern jeder übt – wie es die Idee von Vanda gewesen war – ausschließlich im Rahmen der eigenen Möglichkeiten und im eigenen Tempo. Die Anstrengung (das ist kein Scherz) liegt unter anderem darin, sich den Luxus des Loslassens, diese Eigenheit, diese Freiheit zu gestatten.

Töte nicht den Instinkt des Körpers für die Schönheit der Pose.

Vanda Scaravelli

Vandas Geheimnis: Ankommen ohne Kampf – und mit Grazie

Vandas Prinzip des „Weniger ist mehr“ hat mich über die nächsten Jahre an diverse neue Ufer gespült. Im Yoga wie im täglichen Leben – das Prinzip funktioniert überall. Denn erstaunlich war bei Vandas Ansatz: Nicht Kraftaufwand bringt den Yogi in das Rad. Sondern die vertrauensvolle Hingabe an die unterstützende Schwerkraft, das bewusste Erspüren und Respektieren der Wirbelsäule, das Zusammenspiel von Atem und Bewegung. Immer nachhaltiger fühlte ich über die nächsten Jahre die Gewebeverbindungen, die durch eine intelligente Orchestrierung sogar kompliziertere Asanas mühelos und mit minimal dosiertem Kraftaufwand ermöglichen. Asanas, für die in vielen Yogaformen viel Kraft und Anstrengung aufgewendet wird. So etwas hatte ich weder erwartet noch für möglich gehalten. Der fantastische Nebeneffekt: Verletzungen jeder Art sind im Intuitiven Yoga kein Thema!

Trotz häufiger innerer Ungeduld bin ich dabei geblieben und über jetzt schon elf Jahre. Denn Vandas Geheimnis – und die unfassbare Grazie, mit der dieses Yoga praktiziert wird, wenn man kontinuierlich übt – konnte ich mir nicht entgehen lassen. Durch die wiederholten Einladung an den Körper, auf dem Weg in die Asana loszulassen und die Verbindung (zum Boden, zu mir) zu spüren, fand ich ganz nebenbei den Weg, die Weisheit des Yoga, die Verbindung in mein restliches Leben zu integrieren. Endlich hatte ich verstanden, wie es ist, wenn Yoga den Weg zum Ziel macht.

Den Druck, den Kampf, etwas erreichen zu wollen, hinter mir zu lassen – und dennoch Ziele zu erreichen: Dieses Prinzip übertrug sich wie von selbst immer klarer in alle anderen Alltagsherausforderungen. Die Leichtigkeit und Sanftheit in der Intuitiven Yogapraxis gab mir das Handwerkszeug, nach denselben Prinzipen auch Karrieremomente oder persönliche Probleme besser zu meistern. Ganz nach dem Motto: Sei der Strand, auf dem die Wellen auslaufen. Nicht die Klippe, an der sich alle Kräfte brechen – und die dadurch zusehends weniger, sprich: schwächer wird.

Das klappt nicht jeden Tag gleich gut. Aber man fühlt sich auch nicht jeden Tag gleich in den Asanas. Meditationen zeigen uns, wie tagesformabhängig wir das Leben meistern. Wir sind durch Yoga zwar auf einem Weg zum göttlichen Verständnis. Ankommen aber werden mit ziemlicher Sicherheit die Allerwenigsten. Zumindest nicht lebendig. Die Weisheiten des Yogas können aber eine positive persönliche Weiterentwicklung zu mehr innerer Ruhe und Weisheit auslösen – sogar bei uns auf Effizienz gepolten West-Menschen.

Das Vermächtnis des Intuitiven Yoga

Dafür sollte man aus meiner Erfahrung der Achtsamkeit und der Selbstreflektion als Teil der Yogalehre mehr Raum geben, als es in vielen auf Kraft und Asana-Perfektion ausgerichteten Unterrichtsstilen der Fall ist. Ansonsten bleibt Yoga eine vornehmlich physische Praxis, in die man dieselben Muster mitnimmt, die man schon vor der Praxis schon hatte. Ja, vielleicht manifestiert man diese Muster eher, anstatt sie zu überwinden. In dem Fall wäre mehr dann eher weniger...

Vanda Scaravelli praktizierte und lehrte Yoga bis zu ihrem Tod 1999 in hohem Alter. Sie hinterließ eine überaus bewegliche körperliche Hülle – und das Vermächtnis eines wahrhaft revolutionären Ansatzes, Yoga zu üben und das Leben zu leben.

Alke von Kruszynski
Alke von Kruszynski

Alke ist Journalistin, Wortverdreherin und flexibel genug, um gleichzeitig Scaravelli-Yoga zu unterrichten. Als GingerMag-Chefredakteurin steckt „Frau von K” ihre Trend-Spürnase bevorzugt in Lifestyle-Themen wie Mode, Beauty, Bücher und Reisen. Für YogaEasy schreibt sie aber gern auch über Yoga und alle artverwandten Wissenschaften... ihr natürliches Metier.